Schreiben und Sprache liegt uns Journalisten im Blut. Aber gelegentlich sind auch wir sprachlos: Der erste Ferrari mit vier Türen. Dazu ein V12 mit 725 PS Leistung. Knapp 400.000 Euro teuer und bereits auf anderthalb Jahre ausverkauft. Was wohl Enzo Ferrari, im Himmel vor einer Geburtstagstorte mit 125 Kerzen sitzend, zum neuen Purosangue sagen würde? Wir können Ihnen zumindest sagen, wie er sich fährt.
Auf jeden Fall kein SUV. Das "kein SUV" bitte in ganz großen, dicken Lettern als Leuchtreklame. Ein Purosangue eben, übersetzt "Vollblut", ausgesprochen "Puhrosangwe". Ein Viertürer mit vier vollwertigen Sitzen, aber dem Layout von Supersportwagen wie dem 812 Superfast. Man könnte auch sagen: die konsequente Weiterentwicklung von Modellen wie dem FF.
Klar, Ferrari hatte bereits früher Autos mit vier Sitzen im Programm, denken wir etwa an die 400er-Serie. Aber hier handelte es sich eher um 2+2-Sitzer, wenn die Kinder mal mitgenommen werden mussten. Nicht so der Purosangue. Auch wenn man in Maranello die böse S-Abkürzung tunlichst vermeidet: Eigentlich zählt der Purosangue zu den wenigen Fahrzeugen, auf die "Sports Utility Vehicle" tatsächlich perfekt zutrifft.
Sport und Nützlichkeit verteilen sich hier auf 4,97 Meter Länge, 1,59 Meter Höhe und 2,03 Meter Breite. Radstand? 3,02 Meter. "Wir wollten es mit der Länge der Motorhaube nicht übertreiben", meint der Chefdesigner im Gespräch. Gute Arbeit, der Ferrari Purosangue sieht klar besser aus als ein Lamborghini Urus. Bereifung übrigens 23 Zoll hinten, 22 Zoll vorne.
Viel Auto ist fraglos vorhanden, erwarten Sie aber innen keine Turnhalle wie bei einem Skoda Kodiaq. Der Purosangue ist wie ein Anzug von Ermenegildo Zegna: Auf Taille geschnitten und zwar mit voller Absicht, damit es sexy aussieht.
Übersetzt auf den Ferrari bedeutet das: Die hinteren Türen öffnen elektrisch. Und zwar gegenläufig zu den vorderen Türen. Wer jetzt Opel Meriva B statt Rolls-Royce ruft, bekommt fünf Jahre Lokalverbot in Maranello! Im Fond sitzt man bequem, auf den Einzelsitzen ist die Kopf- und Beinfreiheit okay. Mehr aber auch nicht. Besagte Sitze können per Knopfdruck umgelegt werden, der Kofferraum ist durchaus clever durchdacht. Laut Hersteller "der größte, den Ferrari je bei einem Modell angeboten hat". Eine Anhängerkupplung gibt es übrigens nicht, wohl aber einen Fahrradträger fürs Heck.
Doch Funktion folgt bei diesem Auto klar der Form. Sowohl Abmessungen wie auch Gewicht (etwas über zwei Tonnen trotz Aluminium und Carbon) mögen üppig sein, man sieht es dem Purosangue auf den ersten Blick nicht an. Erst wenn man wie ich in engen Dolomiten-Dörfern einem Bus begegnet, merkt man, dass Breite und Übersichtlichkeit ein Kapitel für sich sind.
Aber kann man mit rationaler Renault-Clio-Denkweise einem Auto wie dem Ferrari Purosangue gerecht werden? Dann würde ich bereits die gelbe Karte für die Blinkerschalter im Lenkrad, die nicht immer schlüssige Bedienlogik oder die nicht wenigen Touchtasten zücken. Braucht der Beifahrer einen eigenen Touchscreen vor der Nase? Wer sich einen Purosangue gönnt, wird das kaum in Verzweiflung stürzen.
Technisch ist der Purosangue ohne Zweifel ein absoluter Leckerbissen: Der Saug-V12 (Codename F140IA) ist als Front-Mittelmotor ausgelegt und das Getriebe weit hinten angebracht. Transaxle also. Hinzu kommt die Kraftübertragungseinheit (PTU), die vor dem Motor angekoppelt ist. Sie sorgt für Allrad und eine Gewichtsverteilung von 49:51. Hinzu kommen eine unabhängige Vierradlenkung und ein Dach aus Carbon.
Entgegen dem von Enzo Ferrari überliefertem Spruch, Aerodynamik brauche nur, wer keine Motoren bauen könne, haben seine Erben viel Zeit im Windkanal verbracht. Effizienz muss eben sein. Unabhängig davon ist der Zwölfzylinder des Purosangue ein Schrein des Motorenbaus: 6,5 Liter Hubraum, 65 Grad Zylinderwinkel, Zylinderköpfe vom 812 Competizione, Trockensumpf und Hochdruck-Direkteinspritzung. 716 Newtonmeter maximales Drehmoment bei 6.250 U/min, 80 Prozent davon schon ab 2.100 U/min. Und 725 PS bei fast 8.000 Touren. Dazu ein 8-Gang-DKG mit der gleichen Übersetzung wie im 296 GTB.
Giuseppe Verdi hätte es nicht besser komponieren können. Der Triumphmarsch aus Aida, aber rot lackiert. Klotzen statt kleckern. 3,3 Sekunden auf 100 km/h, 10,6 auf Tempo 200. Physik neu definiert. Oder um es mit Enzo zu sagen: "Ich verkaufe keine Autos, ich verkaufe Motoren." Einzig im Ansprechverhalten merke ich je nach Fahr-Modus, dass die 725 PS auf ziemlich viel Gewicht treffen. Jammern auf hohem Niveau.
Doch der Commendatore sagte auch einmal: "Ich fahre nicht, um nur von A nach B zu kommen. Ich genieße es zu spüren, wie das Auto reagiert, Teil davon zu werden." Man könnte meinen, er habe den Purosangue bereits erahnt. Erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass dieser Viertürer nicht nur sehr schnell geradeaus fahren kann. Im Comfort-Modus ist der Purosangue ausgesprochen handlich, dank Allradlenkung glaubt man, ein deutlich kleineres Fahrzeug ums Eck zu treiben. Im Sport-Modus wiederum erweist sich das Heck bei Bedarf als recht schwänzelfreudig. Das ESP ist zwar da, nimmt sich aber deutlich zurück.
Ein Kostenkapitel bei einem Ferrari? Da können Sie auch gleich eine Pizza Hawaii in Neapel bestellen. 380.000 Euro kostet der Purosangue hierzulande, eine umfangreiche Ausstattung inklusive, darunter Alcantara aus recycelten Kunstfasern. Und selbst wer diese Summe parat hat, bekommt solch ein Fahrzeug nicht mal eben in vier Wochen wie ein Tesla Model 3.
Ferrari bekennt, dass der Purosangue nur 20 Prozent der Gesamtproduktion ausmachen wird. Rund 13.000 Fahrzeuge betrug diese im Jahr 2022. Der Rest ist Mathematik plus viel Geduld.
Rational betrachtet sind ein Bentley Bentayga Speed oder ein Porsche Panamera Sport Turismo die praktischeren Autos für wohlhabende Familienväter mit Leistungshunger. Aber wann war ein Ferrari jemals rational? Der Purosangue ist ein beeindruckendes Kunstwerk des technisch Machbaren. Und mit Blick auf die langen Lieferzeiten gilt der alte Porsche-Werbeslogan: Keiner braucht ihn, jeder will ihn.