"Vor und hinter dem Spiegel": An diesem Bild hat Ralf Hanrieder acht Monate gearbeitet. Bei Schwarzlicht sieht das Bild ganz anders aus als bei Tageslicht.
Ralf Hanrieders Arbeiten basieren allesamt auf der konsequenten Visualisierung eines uralten geheimnisvollen Zahlenschemas. Die aufwändig gemalten Bilder sind nicht nur effektvoll, sie stellen auch die Sehgewohnheiten infrage.
Ach ja, die Malbücher von früher: Man musste nur die vorgegebenen Flächen nach durchnummerierten Farben füllen, fertig war das Kunstwerk. Dieses "Malen nach Zahlen" soll die frühkindliche Entwicklung fördern. Wenn Ralf Hanrieder über seine Arbeit spricht, sagt er auch gerne, er betreibe "Malen nach Zahlen". Er meint damit freilich etwas völlig anderes. Seit Jahrzehnten arbeitet der Dachauer Künstler mit einem mathematischen Konzept, dem Magischen Quadrat. Es ist sein Markenzeichen und vielleicht sogar sein Alleinstellungsmerkmal in der Kunst.
Das Resultat ist unerwartet sinnlich und intensiv. In dem vibrierenden Gewirr von Strichen öffnen sich Trichter, heben sich Wellen, saugen Strudel von verblüffender Räumlichkeit in Farben von schwindelerregender Leuchtkraft.
"Raumkrümmung" ist ein Spektakel aus Rot und Grün, die Komplementärfarben krachen frontal aufeinander, flirren auf der Netzhaut. Diese Explosion an Form und Farbe ist so heftig, dass Hanrieders andere Bilder in der Dachauer Volksbank in sicherem Abstand aufgehängt wurden. Unter dem Titel "Lichtspiel - Raum" präsentiert er dort von Freitag an seine neuen Arbeiten. Kuratorin Bärbel Schäfer spricht von einer "Ausstellung mit Wow-Effekt".
Bevor man zum Wow kommt, muss man erst noch ein kurzes Telekolleg einschieben: Ein Magisches Quadrat ist ein Zahlenquadrat, dessen Reihen jeweils horizontal, vertikal oder diagonal zusammengerechnet, immer dieselbe Summe ergeben. Bei einer Fläche von neun Feldern ist es 15. Verbindet man die Felder von 1 bis 9, kommt ein Strichdiagramm heraus, wie man es tausendfach auf Hanrieders Bildern findet. Es ist der Universalbaustein seiner Arbeiten, so wie die Note für den Musiker oder der Buchstabe für den Schriftsteller.
Dass Hanrieders Ausstellung ausgerechnet die 15. ist in der Reihe "Kunst und Bank" wie die Quersumme des Magischen Quadrats, ist dabei eine besonders aparte Pointe. Zufall? "Es gibt keine Zufälle", sagt der Künstler und lacht. Aber Hanrieder ist kein Zahlenmystiker, er bezeichnet das Magische Quadrat schlicht als "Werkzeug" oder "Vehikel" für seine Kunst.
Kosmisch: "Rote Meduse", gemalt auf einer Aluminiumplatte.
Bodenständig: Bild aus der heiteren Serie "Kettenkarussell".
Hinter der "Madonna" verbirgt sich in Wahrheit ein afghanisches Flüchtlingsmädchen.
Es ist ein Werkzeug, das auch viel Arbeit macht. An dem größten Bild, dem 1,90 auf 2,50 Meter großen Werk mit dem Titel "Vor und hinter dem Spiegel", hat der Künstler nach eigenen Angaben acht Monate gearbeitet. Er vergleicht seine Malarbeit gerne mit Meditation oder dem Mantra eines Mönchs. Die ewige Wiederholung erzeugt keine Langeweile. Sie erzeugt Tiefe.
In die großen Zeichen malt der Künstler kleinere. Wo sie sich verdichten, fraktal vervielfacht, scheinen die Bilder von innen zu leuchten. Hanrieder spricht von "energetischen Signaturen", wie er überhaupt viel von "Energie" und "Raum" spricht, nie aber von Motiven. Der gelernte Lithograf sieht sich auch nicht als Maler, nicht als Grafiker, eher was dazwischen. Konzeptkünstler vielleicht.
Oft verdichten sich die farbigen Strukturen vor dem Auge des Betrachters zu sehr gegenständlichen Motiven. Der Künstler lenkt und verstärkt diesen Mechanismus der Assoziationen geschickt. Die Serie "Kettenkarussell" basiert auf einer trichterförmigen Struktur, die in bonbonbunten Farben ausgearbeitet ist und reinstes Volksfest-Flair verströmt. Florale Elemente finden sich in den Bildern "Leuchten über dem Wasser". Die ovalen Bilder, die an kunstvoll bemalte Ostereier erinnern, erklärt er gewitzt zur "Hommage à Fabergé", Peter Carl Fabergé wurde durch seine Schmuckgegenstände in Form von Ostereiern berühmt.
Hanrieder dekonstruiert Sehgewohnheiten. Die Bilder, die man sieht, sind oft gar nicht auf der Leinwand, sie sind im Kopf. Darauf verweist indirekt auch der Titel der Ausstellung "Lichtspiel - Raum": Sehen ist nicht nur Perzeption, es ist immer auch Projektion.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich das an der "Madonna" von 2014: Damals experimentierte Hanrieder mit Bildvorlagen, die er wie ein grob gerastertes Foto in lauter kleine Strichdiagramme zerlegte. "Kalkulierte Abstraktion" nennt er diese Methode.
Als Motiv wählte er eine Fotografie des amerikanischen Journalisten Steve McCurry, aufgenommen 1984 im afghanischen Flüchtlingscamp Nasir Bagh. Das Originalbild zeigt ein muslimisches Mädchen mit traurigen blauen Augen, um Hals und Kopf einen Schleier geschlungen. Und was sieht der Betrachter? Die leidende Muttergottes leibhaftig. Eine interessante optische Täuschung. Vielleicht auch eine tiefere Wahrheit. Hanrieder lässt die Dinge gerne in der Schwebe. Etwas anderes erwartet man auch nicht von einem Magier.
In der Langen Nacht der offenen Türen am Freitag, 16. September, ist die Ausstellung von 19 bis 24 Uhr geöffnet, zu sehen bis 14. Oktober.
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